Mutter und Tochter auf Reisen. Unterschiedlicher könnte die Weltanschauung nicht sein. Sie ist eben ein Teenager, und ihr Blick auf die Dinge ist ein anderer. Ein gemütlicherer.
Ich selbst bin von dem Ehrgeiz geprägt, im Urlaub so viel wie möglich zu erleben. Freizeitstress. Mit dem Kajak paddeln hier, Fliegenfischen lernen da – und natürlich Whale Watching. Denn hier in der Bay of Fundy, zwischen New Brunswick und Nova Scotia, besteht eine sehr gute Chance, Buckelwale springen zu sehen. Und das wäre schon ein Traum.
Meiner jedenfalls. Ihrer eher nicht. Meine Tochter will lieber schlafen, schließlich sind Ferien. Wale mögen groß sein, aber sie schwimmen ja nur herum, stellt sie fest und dreht sich provokant in unserem kleinen Bed-&-Breakfast-Zimmer auf Brier Island noch einmal um. Der frühe Vogel fängt den Wurm, halte ich ihr entgegen, und wir haben die erste Walbeobachtungstour des Tages gebucht. Trotz meiner dünnen Argumentationskette steht sie auf. Sie muss. Und ihr Gesichtsausdruck verrät nichts als schlechte Laune.
Dabei hatten wir gestern noch so eine Freude am Meer – weil es plötzlich weg war. Wie an der Nordseeküste, aber mit mehr Superlativen. Man spricht vom größten Tidenhub der Welt. Wenn sich der Atlantik aus der Bay of Fundy zurückzieht, liegen die Schiffe auf dem Trockenen, und die Möwen können auf dem Meeresboden spazieren gehen. Kehrt das Wasser zurück, ist die Bucht einer der besten Orte der Welt, um Wale zu beobachten. Denn hier tummelt sich Krill, und die garnelenartigen Krebstiere sind bekanntlich des Wals Lieblingsspeise. „So wie für Dich Spaghetti Bolognese”, unternehme ich einen weiteren Versuch, meine Tochter wenigstens etwas zu begeistern. Doch sie verdreht nur die Augen.
Das Schiff ist voll besetzt. Touristen aus aller Welt sind zusammengekommen, um die Giganten der Meere zu sehen. Während die Japaner sich gegenseitig mit der Größe ihrer Teleobjektive übertreffen wollen und schon voller Vorfreude die Gischt knipsen, hören wir Nancy zu und lernen. Sie erklärt uns, wie die Wissenschaftler die Wale zählen und deren Migration verfolgen. Die Tiere werden mithilfe der Fluke identifiziert, weil ihre Schwanzflossen so wie menschliche Fingerabdrücke einzigartig sind.
Während wir hören, dass Buckelware rund 50 Jahre alt werden können und sich gerne in ihrer vollen Pracht zeigen, ganz im Gegensatz zu Minkwalen, die lediglich ihre Rückenflosse präsentieren, springt meine Tochter auf und zeigt mit dem Finger aufs Wasser. „Blas, blas“, höre ich sie rufen. Ich bin ganz verdattert und bleibe erst einmal sitzen, während sich die anderen Passagiere um meine Tochter versammeln – hat sie doch einen Buckelwal gesichtet. Da die Zahl der Boote zum Glück limitiert ist, haben wir einen wunderbaren Blick auf die mittlerweile zwei Riesen, die sich anscheinend nicht von uns gestört fühlen. Und meine Tochter entpuppt sich als Walmagnet. Immer wieder stellt sie den Erstkontakt her.
Irgendetwas in den Erläuterungen von Nancy muss ihr Interesse geweckt haben. Und der Zauber der Situation hat wohl den Rest getan. Es ist ihr bewusst geworden, dass die größten Säugetiere der Welt etwas ganz Besonderes sind. Keine Rede mehr davon, dass alle Wale gleich aussehen. Als wir von Bord gehen, nimmt sie meine Hand und bedankt sich. Manchmal muss man Menschen – oder zumindest meine Tochter – zu ihrem Glück zwingen.